Ich liebte Liljana diesen Sommer, oh, wie ich sie liebte!
Mit Worten konnte man dies nicht beschreiben, auch nicht mit Poesie, nicht mit Gebet oder Verdammung, noch weniger mit einem Roman, den ich damals überhaupt nicht im Stande wäre zu schreiben. Es war das, was ich in Ihrer Gegenwart fühlte, es war überall in mir und es erfüllte mich. Es kam über mich, es wärmte mich und es berauschte mich so sehr, dass ich mich kneifen musste. Aber auch das half nicht wirklich. Es geschah etwas mit mir, dass ich so noch nicht erlebt hatte und auch mit nichts vergleichbar war. Es schien, als sei es aus demselben Stoff wie Träume und konnte nicht einfach so in der Wirklichkeit erweckt werden. Es half mir, als ich anfing zu glauben, dass ich von nun an ein feines Gespür für eine vierte Dimension in der Welt entwickelte und von dieser Welt wussten all diese ordinären Leute um mich herum, außer natürlich Liljana, absolut nichts.
Ich liebte sie also unheimlich.
Oh, wie könnte ich denn nicht?
Sie war das Mädchen aus jugendhaften Träumen, von denen ich bis damals glaubte, dass sie überhaupt nicht existieren. Noch weniger konnte ich hoffen, dass sie mich – wenn ich sie durch einen wundersamen Glücksfall treffen würde – überhaupt ansehen würde. Aber sie stand einfach da, auf diesen ausgetretenen Stufen des alten Zemuner Gymnasiums und blickte mich an und erstaunlicherweise blickte sie mich immer noch an, als mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich fing an zu begreifen, dass gerade sie diejenige ist, die man normalerweise niemals im Leben trifft und wenn sie einem schon über den Weg läuft, so ist das einzige was man tun kann, sich so schnell wie möglich umzudrehen und sich auf gar keinen Fall irgendetwas einzubilden. Ich zog meinen Kopf zwischen die Schultern und stieg mit schlurfenden Schritten zu der Eingangstür hoch, die, Gott sei Dank, weit offen stand. Mit jeder Treppe die ich hinaufstieg entfernte ich mich immer weiter von ihr und somit auch von Ihrem Einflussbereich, in dem mich noch eine leere Hoffnung betören hätte können, aber ich konnte mich dennoch, trotz aller Bemühungen, nicht völlig von ihr wegdrehen.
Sie hingegen stand noch immer da und blickte mich an.
Ihre großen Augen waren so blau, wie auch der heitere Himmel dieser Tage über dem Flachland von Sremska Mitrovica und dem Berg Fruška gora. Aber dieser klare weite Himmel, schien nur eine sonnen-beschienene Himmelsleere zu sein, ihre Augen hingegen waren voll mysteriöser vielfältiger Schönheit. Wie, um Himmels willen, sagte ich zu mir leise, kannst du in diesen Augen etwas sehen, was sicher nicht für dich bestimmt ist? Was genau es war, was mich verwirrte, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es schien mir, dass dies nur das Lachen des Herzens war. Oder vielleicht die vollkommene unschuldige kindliche Freude. Aber hinter der Tiefe ihrer schimmernden Augen bewegte sich dann noch etwas, was mich vollends irritierte und lähmte. Mir ging auf einmal durch den Sinn, dass sie nicht wollte, dass ich an ihr vorbeiging, dass sie erschrecken musste, wenn ich sie verlasse und so sagte ich in einem Atemzug »Hallo, kannst du mir helfen? Ich muss zum Genossen Schulleiter.«»
»Was denn sonst,« nickte sie. »Der Alte ist eben nicht schwer in der Schule zu finden«, sagte sie mit spöttischer Miene. »Er ist überall dort, wo er eigentlich nicht sein sollte.«
»Ich weiß nicht ob ich das verstehe.« gestand ich einfach.
»Es gibt nichts zu verstehen.« lächelte sie. »Er bildet sich ein, dass das hier sein Zuhause ist und das er alles unter Kontrolle hat.« erklärte sie mir.
»Achso…« Ich nickte, als ob ich es verstanden hätte.
»Das, das«, erhob sie ihre Stimme. »Aber das hat er nicht«, zuckte sie. »Weiß Gott, das hat er nicht«, lächelte sie. »So ein beschissener Hurensohn!«
…»Hurensohn?« murmelte ich und schwieg.
Das hatte ich aus ihrem Mund nicht gerade erwartet und es wirkte wirklich ungewöhnlich. Ich war schon gut zwei Monate hier und auch die kräftigsten militärischen Zoten konnten mir nichts mehr anhaben, aber das hatte mich jetzt kalt erwischt. Es sah nicht so aus, als ob sie ihn wirklich hassen würde und es hörte sich nicht so an als würde sie wirklich für den Sohn einer Hure halten, aber trotzdem war er von da an für mich eine Missgeburt, der geschätzte Genosse, zu dem mich der Fahnenträger schickte, um die Zusammenarbeit von Schülern des Gymnasiums bei den Veranstaltungen der Kaserne zu vereinbaren.
»Uf«, japste sie. »Entschuldigung«, besänftigte sie sich. »Ich bin wirklich eine Ziege«, sagte sie reumütig. »Ich hätte daran denken können, dass du vielleicht aus einer Gegend kommst, wo die Frauen nicht furzen.«
»Nein, nein«, ich schüttelte heftig den Kopf.
»Was – Nein?«, fragte sie lächelnd.
»Eigentlich Ja«, sagte ich nochmal umgekehrt.
»Was – Ja?« lächelte sie noch mehr.
»Du weißt schon«, fing ich an und verstummte sofort.
Ich habe verstanden, dass sie eigentlich nur voller Lebenslust und Inspiration war, denen ich damals einfach nicht gewachsen war, darum musste ich mich zurückziehen. Nun, ich verpasste somit, Gott sei Dank, nur die erste Gelegenheit und meine Sturheit sollte nicht mein Schicksal bestimmen. Weil ich schon damals, in diesen nächsten, kurzen, wirklich blitzhaften Momenten, wo ich mit ihr die Treppe im Inneren bis zum Büro des Schulleiters hochgegangen bin, noch mehr davon überzeugt war, dass ich mit einem Mädchen unterwegs war, das mich unwiderstehlich an sich riss.
Es war wirklich etwas Magisches.
Sie war aus einer anderen Welt und offensichtlich auch aus anderem Holz geschnitzt.
Ihre flüchtigen Schritte, mit denen sie hinaufging und dazwischen auch zwei Treppen übersprang, zeichneten unter ihrem rosa Rock dünne Beine und Hinterbacken, mit denen sie leicht auf die Titelseiten aller Männermagazine dieser Welt kommen könnte. Aber dorthin könnte sie auch wegen ihres schmalen Rückens, in Form von einem Fisch, kommen, wegen der erhobenen Schultern und der wirklich vollen Brüste. Zugleich ging es aber bei allen ihren Reizen wahrscheinlich nicht darum. Das Geheimnis lag in einer besonderen Harmonie oder in etwas, das sie so eigenartig machte. Was genau das war konnte ich damals noch nicht ergründen. Das alles ordnete sich vor mir in einer Eile, die an mir vorbei raste und mich zurückließ. Ich fühlte mich wie eine Schnecke angesichts des allgemeinen Rückzugs auf die Arche Noah. Aber ich überlebte, letztendlich genauso, wie die Schnecken wahrscheinlich auch den Weltuntergang überlebten.
Schon im nächsten Moment blieb ich vor der Bürotür des Schuldirektors stehen, zupfte meine Uniform zurecht und versuchte mich daran zu erinnern, was mir alles von meinem Vorgesetzten angewiesen worden war. Obwohl ich noch kurz davor voller Angst gewesen war und es mir überhaupt sehr verantwortungslos vorkam, dass er solch eine wichtige Aufgabe einem einfachen Soldaten übertrug, war ich jetzt erstaunlicherweise davon überzeugt, dass ich es diesmal nicht vermasseln würde. Von jetzt an war ich jemand, den die Ljiljana bemerkte und der Genosse da drin war nur ein Streber, auf dessen Kopf ein Vogel sein Bedürfnis verrichtete.
Ich weiß, dass ihr euch jetzt schon in meine Lilja verguckt habt und dass euch unsere verhängnisvolle Liebe sehr interessiert, aber fangen wir lieber am Anfang an.
Die Nachricht, dass ich wegen meinen Schwierigkeiten mit dem Studium und weil ich schon von der Uni geflogen war schon sehr bald zur Jugoslawischen Volksarmee zum Wehrdienst müsste, traf unser Haus wie ein Blitz. Während sich damals viele Familien auf diesen Initiationsritus für Jungs sogar freuten oder ihn wenigstens als eine heilige Pflicht gegenüber der Heimat verstanden, benahmen sich meine Eltern als ob mir mit dieser Rekrutierung irgendwie eine hohe Strafe verhängt wurde. Und auch der Rest der Familie freute sich nicht gerade über diese unaufschiebbare Tatsache, da bei all den Abschiedsbesuchen und Abschiedsfeiern der Abschied selbst als eine Totenwache vorkam.
Warum es so war, wusste ich nicht und konnte mir das anfangs überhaupt nicht erklären. Nach außen wirkten wir wie eine vollkommen häusliche, zahme Familie, die Mutter, die eine Lehrerin war, war sogar in der Partei und auch unser Famillienstammbaum zeigte keine verdächtigen oder verheimlichten Wurzeln. Also war es nicht zu denken, dass mich dort hinter den Kasernenmauern jemand ins Visier nehmen würde, für irgendetwas, das ich nicht begangen hatte. Ich war schon volle einundzwanzig Jahre alt und sicher war es zu hoffen, dass ich mich unter den Rekruten, die überwiegend achtzehn Jahre alt waren, zurechtfinden würde. Es musste also etwas anderes sein, was zu so tiefem Pessimismus führte und so viel Besorgnis erregte. Aber ich wollte nie nachfragen. Eigentlich habe ich alles zusammen irgendwie unterdrückt und überließ es den anderen, an meiner Stelle die Tage bis zum Abschied zu zählen. Also, die Zeit verging natürlich weiter und zwang schließlich die Schweigenden, sich von alleine zu öffnen.
Als erster sprach der Vater.
»Weißt du, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, sagte er mit veränderter Stimme, die ankündigte, dass es ernst würde. »Aber etwas weiß ich sicher«, bereitete er noch weiter seine Ansprache vor. »Jede Armee ist eine Armee«, sagte er dann.
Jede Armee ist eine Armee, wiederholte ich im Kopf und nickte. Es war eigentlich kein großer Gedanke, aber er war durchaus zu verstehen.
Der Vater, der seine meisten Tage an der Drehbank verbracht hatte, hat niemals blumig geredet oder endlos gesprochen. Für ihn war ein Klotz einfach nur ein Klotz, ein Holzspann nur ein Holzspann und die Armee war einfach eine Armee. Sie hatte ihre eigene Struktur, Regeln und Hierarchie – und da konnte man nichts dran ändern. Über ihren Zweck, unsere Bereitschaft und Kraft könnte man zwar noch debattieren, aber das war sicher nicht der Grund, warum er jetzt mit mir sprach.
»Ich selbst diente zwar schon im Königreich Jugoslawien«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Ich leistete den Eid auf König Peter, als ihn die Putschisten als volljährig erklärt hatten«, verlängerte er schon wieder seine Einleitung. »Dort konnten uns noch die verdammten Offiziere schlagen«, presste er dann durch die Zähne. »Jeder Idiot mit Epauletten konnte dir ohne Grund mit dem Säbel über den nackten Hintern streifen«, keifte er mich an.
»Aber gut, das dürfen sie jetzt nicht mehr machen«, winkte er dann ab und blickte weg.
»Sicher dürfen sie das nicht mehr«, begann ich dann.